Freitag, 4. Januar 2019

Das soziale "Wir"

Wie sehr man auf andere angewiesen sein kann, merkt man dann, wenn das Leben dir aus heiterem Himmel mal eins deiner meistgenutzten Fortbewegungsmittel außer Gefecht setzt.

So geschehen pünktlich zum neuen Jahr einer Freundin.
Sie war umgeknickt und rief mich am 1. Januar an, ob ich sie ins Krankenhaus in die Notaufnahme fahren könnte.
Gemeinsam nahmen wir die Stufen aus der Haustür und schon bei der kleinen Strecke konnte ich sehen, das es schwierig werden würde, weite Strecken zurückzulegen. Endlich hatte ich sie im Auto.  Als nicht versierter Krankenhelfer und malte mir schon aus, wie ich sie denn vom Auto in die Notaufnahme bringen sollte, ohne das sie den Fuß benutzte. Ich hoffte darauf, irgendwo einen Rollstuhl zu finden.
Am Krankenhaus angekommen wählte ich den einzigen Weg, der mir adhoc einfiel. Ein großer Innenhof den man dankbarer weise anfahren konnte, machte es möglich.
Und so fuhr ich in den Innenhof und platzierte mich entgegen aller Regeln aus Not direkt vor dem Haupteingang in der Hoffnung, dort jemanden zu finden, der mir entweder den Weg weisen oder irgendwie weiterhelfen konnte oder um meine Freundin auf der nächststehenden Bank zurückzulassen, bis ich das Auto geparkt hätte.
Kaum hatte ich sie aus dem Auto gehoben, kam ein netter Herr durch die Tür. Scheinbar hatte er uns von der Rezeption aus beobachtet. Der Hof war sonst menschenleer. Es war 11.30 Uhr.
Bei sich führte er einen Rollstuhl.
"Ich kann ihnen den Rollstuhl überlassen, wenn sie mir einen Führerschein oder ähnliches geben" sagte er.
"Sie können ihr Auto hier nebenan auf der Straße heute kostenlos parken"
"Wunderbar! Vielen Dank!" sagte ich.
Dankbar, das wir sogleich die richtige Hilfe gefunden hatten, ließ ich meine Freundin in seiner Obhut. In der Straße herrschte normalerweise ein ständiges kommen und gehen. An diesem Neujahrsmorgen war alles wie leer gefegt. Ich parkte und kehrte zu Fuß zurück zum Eingang.
Meine Freundin wartete dort. Das verletzte Bein hielt sie etwas abgewinkelt in die Luft, um mit dem Fuß den Boden nicht zu berühren.
"Zur Notaufnahme geht es in den 2. Stock vorne links ist der Aufzug und dann oben rechts" sagte sie mir.
"Also dann. Los geht's."
Alles war ruhig. Der Aufzug bewegte sich lautlos in den 2. Stock. Die Türen öffneten sich. Ich schob den Rollstuhl in den breiten offenen Gang und blieb kurz stehen, um mich in der Halle zu orientieren. Eine Schwester lief mit einer gehetzten Mine an uns vorbei in den Aufzug. Mein Blick wanderte rechts an die andere Seite der Halle. Dort war eine Tür mit einer rot-weißen Aufschrift "Notaufnahme".
Gemeinsam rollten wir durch die Gänge bis wir zu einem Schalter kamen. Hinter dem Schalter saß eine brünette Frau mit einem Tshirt. "Make your day" stand darauf. Und ich dachte mir... "Den haben wir wohl schon durch....viel Optionen gibt's da gerade nicht"
"Bitte warten sie hinter der gelben Linie" sagte die Frau hinter dem Schalter.
Ich zog den Rollstuhl hinter die gelbe Markierung auf dem Fußboden, die ich beim ersten Mal einfach überfahren hatte.
Am Schalter stand ein junger Mann, der offenbar lang und breit gerade seine Krankenkassenverhältnisse erklärte. Dahinter dehnte sich der Gang weitere 5 Meter bis zu einer Tür, die ich als andere Eingangstür erkannte, die man von der Straße auf kurzem Weg erreichen konnte. An der Wand hingen Infotafeln. Hin und wieder kam eine zierliche kleine Frau mit langen schwarzen Wimpern aus einem Gang oder einer Tür und legte Papiere auf einem Tisch ab. Ein Mann mit Kittel und noch eine weitere Frau.... Man konnte sehen, das sie emsig durch die Gänge liefen, immer zügig ohne lange einmal inne zu halten.
Ein Gedanke streifte mein Sein, das es sicher länger dauern könnte. Vor allem an so einem Feiertag.
Irgenwann war der Mann am Schalter fertig und machte den Platz frei.
Nun also begann unsere Reise.
Nachdem der Sachverhalt über das Anliegen geklärt war, wies uns die Dame an, im Wartebereich Platz zu nehmen. Den hatte ich noch garnicht so wirklich registriert. Hinter einer Stellwand erkannte ich beim weiterfahren am Schalter vorbei mehrere Sitzplätze und einen Kaffeeautomat.
Ich schob meine Freundin neben einen freien Sitz. Ich hatte gesehen, das der Stuhl zumindest die notwendigen Löcher hatte, um eine Stütze für die Beine oder Füße anzubringen. Ich konnte sehen, das hochhalten des Beines ihr zunehmend Schwierigkeiten bereitete und so drehte ich mich kurz zurück zum Schalter:
"Haben sie zufällig eine Beinstütze für den Rollstuhl?" fragte ich.
"Nein, leider nicht. Die sind geklaut worden."
Ich setzte mich auf den Stuhl neben dem Rollstuhl und bot ihr an, ihr Bein über meines zu kreuzen, um das Bein zu entlasten. Hin und wieder dachte ich daran, das ich mir den Feiertag etwas anders gewünscht hätte. Ich dachte daran, einfach zu fahren und meines Weges zu gehen. Aber ich spürte, das meine Freundin froh darüber war, nicht ganz alleine dort zu sitzen... und so blieb ich wo ich war.
 Lange passierte garnichts. Es schien sich niemand zu bewegen. Niemand wurde aufgerufen. Und falls doch, dann ohne das ich es bemerkt hätte. Nach 2 Stunden dann wurden wir das erste Mal aufgerufen. Die zierliche Schwester die ich schonmal vorbeihuschen hatte sehen, führte uns in einen kleinen Behandlungsraum mit einer Liege. Nach gefühlten 10 Minuten kam der Assistenzarzt. Er betrachtete das Bein und wies uns an zum Röntenraum zu gehen. Froh das sich endlich was bewegte, schob ich meine Freundin dorthin. Vielleicht würde es doch nicht mehr so lange dauern... hoffte ich.
Im Gang vor dem Röntgen- Raum war niemand zu sehen. Dort war eine Annahmestelle, deren Schalousie geschlossen war.
Ratlos klopfte ich an eine Tür. Eine Helferin kam heraus. Sie führte meine Freundin in den Röntgenraum. Es ging sehr schnell. Nach 5 Minuten war sie wieder auf dem Gang und wir sollten zum Wartebereich zurück. Wieder 1 Stunde verging. Endlich wurden wir aufgerufen.
Die Assistentin öffnete die Aufnahmen am Computer. Man konnte die Röntgenbilder sehen. Ein kurzer Blick von mir als Laien sagte mir, das es für mich aussah wie ein Knochenbruch... was der Arzt kurze Zeit später auch vermutete aber sich am nächsten Tag nochmal anschauen wollte.
Er schickte uns zum Gibsraum und sagte, das meine Freundin Krücken bekommen sollte.
Wir rollten durch die Gänge und die gleiche Assistentin begegnete uns bald. Sie sollte den Gibs anlegen. Alles in allem habe ich an diesem Tag maximal 6 verschiedene Personen gesehen. Die Frau am Schalter und die Patienten oder Gäste nicht mitgezählt.
An diesem Punkt waren wir noch relativ guter Dinge trotz des Schocks für meine Freundin und dem Schreck das sie den Fuß gebrochen hatte. Meine Freundin bekam einen Gibs... und Krücken wurden eingestellt. Kaum war der Gibs fertig, klingelte das Telefon.
Wir sollten umgehend zur CT... mit Gibs.... ihre Kleider und Sachen können sie hierlassen. Sagte die nette Assistentin. Zwischendurch hatte ich mir sehnlichst einen Schrank gewünscht, in dem wir alle Wertsachen und das Winterjackengeraffel hätten ablegen können. In dem Gibsraum fand ich das erste Mal einen Kleiderhaken. Nicht das es im Wartebereich keinen gab. Der war von mir unbemerkt unschuldig an einer Wand gestanden.
Gesagt getan. Ich rollte meine Freundin zur CT. Selber Ablauf wie beim Röntgen. Eine Assistentin schob sie in den Raum und kurze Zeit später war sie raus. Wieder sollten wir zum Wartebereich.
Der Gibs war noch weich. sie sollte aufpassen, ihn nirgendwo anzulehnen und abzulegen. Damit war auch das Bein schwerer und die Muskeln schon arg strapaziert. Wieder setzte ich mich an den Aussenplatz neben meine Freundin und sie hängte ihr Bein über meines. Im Stillen fragte ich mich, was mit jemandem ist, der niemanden hat. Der ganz alleine durch diese ganzen Instanzen muß. Irgendwo in einem der Nachbargänge hörte man eine ältere Frau rufen. In 5 Minutenabständen war ein "Schwester..!" zu vernehmen. Anscheinend blieb ihr rufen unbeantwortet. Denn ich sollte sie noch einige Stunden rufen hören. Vielleicht war sie verwirrt aber vielleicht hatte auch von den wenigen vorhandenen fleißigen Helfern keiner wirklich Zeit für sie.  Denn für Zwischenmenschlichkeiten bleibt in so einem geregelten Uhrwerk keinerlei Platz. Der Mensch als Zahnrad. Ob als Patient oder als Angestellter. Wir behandeln uns manchmal schlechter als unsere Maschinen. Die hören im Zweifel nämlich einfach auf ihren Dienst zu tun.
Den Arzt und die Assistentinnen trifft hier keine Schuld. Sie waren jederzeit herzlich und schnell. Aber wer hat jemanden eingestellt, sich um die Bedürfnisse zu kümmern, die zwischen dem fachlichen liegen?
2 Stunden vergingen.  Alle rennen so geschäftig und sind so beschäftigt, das man niemanden aufhalten möchte. Es ist niemand da bei dem man das Gefühl hat, er wäre dazu da, sich nur um unsere zwischenmenschliche Belange zu kümmern und doch tun es alle irgendwie auf ihre weise.
Irgendwann sagte meine Freundin das sie keine Kraft mehr hätte und ihr Bein würde so schmerzen. Und so schob ich sie einfach zurück zum Gibsraum. Dort hingen nach wie vor unsere Kleider und Sachen und so nahm ich an, es wäre sicher ok. Sie legte sich auf die Liege. Man hatte ihr Schmerzmittel versprochen, aber bekommen haben wir an dem Tag erst eines in der Apotheke.
Ich ging auf den Gang und suchte nach der Assistentin oder dem Arzt um ihnen anzuzeigen, das wir wieder im Gibsraum waren. Irgendwann fand ich sie auch. Mit Handzeichen deutete ich kurz auf den Raum während beide über die Gänge von Tür zu Tür huschten und mir andeuteten sie kämen gleich.

Irgendwann kam der Arzt. Mittlerweile war es 16 Uhr. Er schnitt den frischen Gibs wieder auf und sagte meiner Freundin sie müsse Freitag operiert werden.
Dazu müsste sie Donnerstag nochmal zur Untersuchung kommen.  Ausserdem müsste sie noch etwas unterschreiben wegen den Krücken und sie bekäme noch eine Trombose Spritze von der Assistentin.
Und anderer Papierkram. Wir dachten, es wäre bald zu Ende, aber ein Notfall dehnte es noch ein wenig mehr aus.
18:40 Uhr verließen wir die Notaufnahme mit allerlei Zetteln. Am Ende unserer Kräfte, ihre mehr als meine. Wir hatten einen Bärenhunger und die Apotheke die Notdienst hatte, war nicht weit vom Krankenhaus.

Ein Platz der nicht besetzt ist, wird durch etwas anderes ausgefüllt!

Alle an diesem Tag waren ohne Ausnahme nett und jeder schien so effizient wie es eben möglich war seine Arbeit zu machen. Aber eines fehlte in diesem doch eigentlich so tief sozialen Arbeitsbereich, in dem Menschen anderen Menschen helfen. Ein Platz war nicht besetzt und er machte sich bemerkbar, in dem unermüdlichen Rufen der alten Dame, an der Gereiztheit der wartenden Besucher in der Notaufnahme, die sich nach einer Weile an dem Rufen der Frau störten. Er wurde sichtbar an dem fehlen des  einen, den man ansprechen hätte können, der sich um die schlichten Fragen kümmert, die auftauchen, während man Stunde um Stunde wartet oder von einem Ort zum anderen geht. Da ist niemand, der die sozialen Sorgen oder Ängste auffängt. Niemand, der die Zeit hat zu fragen, ob man etwas braucht oder an den man sich wenden kann der nur dafür da ist. Denn alle anderen Aufgaben von Papierkram bis Technik sind besetzt. Der dem Fußkranken eine Fußstütze organisieren kann, und sei sie noch so unkonventionell. Der den Wartenden darüber aufklärt, das es tatsächlich noch etwas dauert, weil gerade ein noch dringenderer Notfall eingetroffen ist.  Der einfache Versicherungsfragen beantwortet, die sich sonst niemand stellt.  Die Dame an dem Schalter war zwar da. Man hätte sie ansprechen können. Dennoch schien dieser Platz unbesetzt zu sein. Dort wo dieser Platz unbesetzt ist, herrscht eine soziale Kälte. Das Gefühl mit allem alleine zu sein. Das Gefühl, wenn du deinen Kopf nicht unter dem Arm trägst, dann bist du bis zum umfallen auf dich alleine gestellt, weil es für das Zwischenmenschliche einfach keinen Platz zu geben scheint.



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